Ich hätte nicht erwartet, das Thema erneut aufgreifen und mit weiterführenden Informationen ergänzen zu können. Vor einigen Wochen erhielt ich jedoch eine persönliche Nachricht von Herrn Michael Nestmann, der sich eigens zur Kontaktaufnahme in diesem Forum registrierte. Er hatte von einer Bekannten erfahren, dass über seine frühere Firma in diesem Rahmen berichtet wurde. Wir vereinbarten miteinander zu telefonieren.
Nur nebenbei: Im Rahmen meiner früheren Tätigkeit für ein Unternehmen im Rheinland stand ich regelmäßig in beruflichem Kontakt mit einer Tochtergesellschaft in Zwickau. In diesem Zusammenhang war ich häufig dienstlich vor Ort in Zwickau tätig. So kamen Herr Nestmann und ich darüber ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass wir gemeinsame Bekannte haben

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Herr Nestmann gab mir in unserem Telefonat viele Informationen zur Geschichte der Schleiferei Nestmann. Die Nestmanns waren über mehrere Generationen eine Schleiferfamilie, deren Ursprung auf Max Nestmann sen. zurückgeht.
Herr Michael Nestmann stellte mir freundlicherweise ein paar Dokumente zur Verfügung.
- Einen handschriftlichen „Lebenslauf“ von Max Nestmann sen., den dieser 1941 geschrieben hat. Dieses Dokument ist in Sütterlin geschrieben und erschloss sich mir erst einmal nicht. Ich konnte im Internet eine Webseite finden, mit der handschriftliche Dokumente „übersetzt“ werden können. [Übersetzung ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, es geht vielmehr darum, die Schrift in die heutigen Buchstaben zu transformieren.]
- Kopien einer sechsteiligen Reihe aus der Zwickauer Lokalzeitung (Westsächsische Zeitung), die zwischen Februar und April 2000 mit dem Titel: „Zwickauer Unternehmen um 1900 - Kunstschleiferei Max Nestmann“ veröffentlicht wurde.
Im Folgenden gebe ich den Inhalt der beiden Dokumente sowie Inhalte persönlicher Gespräche mit Herrn Nestmann in stark gekürzter Form wieder. Dabei sei angemerkt, dass die allgemein harten Lebensumstände, die in beiden Dokumenten dargestellt werden, insbesondere die Herausforderungen für Kinder zu jener Zeit, durch die Kürzungen nicht berücksichtigt werden konnten.
Der Gründer des Unternehmens war Max Nestmann, geboren am 15. September 1865 als das vierte von acht Kindern in Saalburg an der Saale (Thüringen). Er wuchs unter einfachen Verhältnissen als Sohn eines Schuhmachermeisters auf. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Lehre als Scherenschleifer in Schedewitz und arbeitete anschließend in verschiedenen Städten wie Zwickau, Halle und Dresden, wo er sich Fachkenntnisse und Berufserfahrung (u.a. im Hohlschleifen von Rasiermessern) aneignete. 1886 heiratete er seine Frau Marie, bevor die Familie 1896 dauerhaft nach Zwickau zog. Dort gründete Max nach mehreren Anstellungen und mit erworbenem Kapital im Oktober 1896 seine eigene Schleiferei mit Gasmotorbetrieb.
Nach Jahren harter Arbeit konnte Max Nestmann 1905 einen Elektromotor anschaffen, was den Betrieb erheblich erleichterte. Seine Söhne Max jun. und Emil stiegen ins Geschäft ein, das dank eines kleinen Ladens und reisender Vertreter bis nach Magdeburg, Dresden und weitere Städte expandierte. Nach Abschluss ihrer Lehre sammelten die Söhne Erfahrungen außerhalb (Max jun. ging nach Stettin und Emil nach Leipzig) und kehrten danach zurück. Neben Stahlwarenhandel war vor allem das Schleifen von Scheren gefragt, insbesondere für Zierdecken aus dem Erzgebirge – allein 1913 wurden rund 24.000 dieser „Spachtel“-Scheren gefertigt. Der Erste Weltkrieg stoppte das Wachstum: Die Söhne mussten zum Militär.
Max Nestmann jun., der sich noch 1914 selbst ein Geschäft in der Reichenbacher Straße 5 eingerichtet hatte, musste am ersten Tag des Kriegsausbruches beim Militär eintreffen. Emil, Richard und Kurt folgten unmittelbar danach. Sohn Emil fiel am 4. März 1916, Max und Richard kamen beide verwundet zurück. Lediglich Kurt überstand den Krieg unbeschadet.
Währenddessen arbeitete Max Nestmann teils 18 Stunden täglich; auch seine Tochter Grete half mit. Hungerjahre und Inflation brachten das Unternehmen an den Rand des Ruins.
Ab 1924 stabilisierte sich die Mark wieder. Kurt kehrte nach Kriegsende zurück, arbeitete in der Werkstatt des Vaters mit und bestand 1922 die Meisterprüfung als Hohlschleifer. Auch seine Frau Johanna stieg ins Geschäft ein. Max jun. und Kurt gingen geschäftlich getrennte Wege: Max betrieb sein Geschäft an verschiedenen Standorten und firmierte später als „Nestmann am Dom“. Ab den 1940er Jahren führten Max jun. und Sohn Siegfried das Unternehmen. Letzterer wurde im zweiten Weltkrieg bei Stalingrad schwer verwundet und verlor dadurch sein Augenlicht.
1958 wurde das Geschäft aufgegeben und die Werkstatt durch Manfred Engelhardt weitergeführt. Das Geschäft übernahm die staatliche HO (Handelsorganisation).
Siegfried zog nach Solingen, wo er verstarb. Sein Name ist in den Adressbüchern von 1961 bis 1969 des Solinger Stadtarchivs zu finden. Er wohnte im Pommernweg 6.
Siegfrieds Sohn Christoph ist mittlerweile verstorben, so dass der Familienzweig Max Nestmann jun. hier endet.
Zurück zur Linie Kurt Nestmann. Kurt arbeitete mit seinem Vater zusammen, übernahm 1930 das Geschäft und bezog neue Räumlichkeiten in der günstiger gelegenen Äußere Straße 1-3. Dies war aber nur eine Zwischenstation, denn bis 1936 war bereits der nächste Umzug in die Innere Schneeberger Straße vollzogen.
Die Firma wuchs, beschäftigte bis zu acht Angestellte und bot ein vielseitiges Sortiment, darunter Solinger Stahlwaren, Bestecke, Silberporzellan und Geschenkartikel. Die Investition in moderne Technik ermöglichte die Bearbeitung von Papierschneidmessern, womit neue Geschäftsfelder erschlossen wurden.
1943 verstarb Max Nestmann sen., der Gründer des Unternehmens im Alter von 78 Jahren.
Neben der Industrie wurden auch Haushalte und Gewerbe mit Schleifarbeiten bedient; bis in die 1930er Jahre sammelten Angestellte Kundenaufträge per Fahrrad ein, Fleischer bezahlten teils mit Wurstwaren. Nach der Zerstörung des Geschäfts in der Schneeberger Straße durch Bombentreffer 1945 zog man zum Hauptmarkt 14 und erweiterte das Sortiment um Haushaltswaren. Das Hochwasser 1954 verursachte große Schäden, nach der Renovierung wurde das Geschäft bis 1961 weitergeführt und ab 1. Januar 1962 von der Handelsorganisation übernommen. Kurt Nestmann übergab die Schleiferei an seinen Sohn Dietrich, der ab 1938 bei ihm lernte, 1940 zum Reichsarbeitsdienst musste und 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Nachdem der Markt in Zwickau gesättigt war, eröffnete Dietrich 1951 in Werdau ein eigenes Stahlwarengeschäft mit Spezialschleiferei.
Kurt Nestmann verstarb am 10. Dezember 1968.
Dietrichs Ehefrau Christa leitete das Büro, während Dietrich Nestmann mit seinem Team die Werkstatt führte. Besonders gefragt waren ihre Haushaltmesser mit Wellenschliff, einer Solinger Erfindung aus den 1920er Jahren. Bis 1961 bestand der Firmensitz in Werdau; dann übernahm Dietrich nach der Geschäftsaufgabe am Hauptmarkt 14 von seinem Vater Kurt die Schleiferei, die in der heutigen Bosestraße lag. Neben Haushalts- und Gewerbekunden wurden zunehmend Industrieaufträge angenommen – möglich durch eine große Flächenschleifmaschine (Länge 2,8 m). Nach Dietrichs frühem Tod am 16. April 1991 übernahm sein Sohn Michael die Leitung des Familienbetriebs.
Michael Nestmann, geboren am 27. Juli 1955 in Zwickau, leitete das Unternehmen in vierter Generation. In den Jahren 1972 bis 1974 absolvierte er bei der Firma Engelmann (vormals „Nestmann am Dom“) eine Ausbildung zum Instrumentenschleifer und erwarb 1978 die Meisterqualifikation in diesem Beruf, später als „Schneidwerkzeugmechanikermeister“ bezeichnet. Zu seinen Meisterstücken zählte unter anderem ein Rasiermesser mit Hohlschliff, das aus einem Rohling gefertigt wurde.
Im Jahr 1987 übernahm Michael Nestmann das Geschäft seines Vaters in der damaligen Philipp-Müller-Straße 43 (heute Bosestraße). Der Betrieb war vor allem auf das Schärfen von Messern für Schlagscheren spezialisiert, die in der metallverarbeitenden Industrie eingesetzt wurden. Mit vier Mitarbeitenden war das Unternehmen ausgelastet; in der DDR gab es nur wenige Handwerksbetriebe, die diese Arbeiten durchführen konnten. Dafür war eine Flächenschleifmaschine erforderlich.
Bis 1989 betreute der Betrieb einen Kundenstamm von etwa 300 Unternehmen aus der metallverarbeitenden Industrie. Die Währungsunion und der damit verbundene Rückgang vieler Betriebe führten auch bei der Schleiferei Nestmann zu erheblichen Einschnitten. Um die Firma weiterzuführen, wurde das Angebot um das Schleifen von Hartmetallmessern und andere Dienstleistungen erweitert, wofür entsprechende Maschinen angeschafft wurden. Das Leistungsspektrum des Betriebs wurde so beispielsweise um Papierschneidemesser für Druckereien, Kreissägeblätter, Fensterfrässätze für Tischlereien, Fleischereimesser sowie Artikel für den Haushaltsbedarf und Arbeiten für Hotels und Gaststätten ergänzt.
Aufgrund von Grundstücksfragen entschied sich Michael Nestmann 1993 zur Verlagerung des Betriebs in den Gewerbepark Lichtentanne. Dort konnte die Werkstatt in einem Gebäude der ehemaligen Kammgarnspinnerei unter verbesserten Bedingungen eingerichtet werden.
2008 hat Michael Nestmann das Geschäft aufgegeben.
Ein paar Anmerkungen für die Rasiermesser-Interessierten unter uns:
- Das Buch von Max Schmidt „Das Rasiermesser“ aus dem Jahr 1939 war die Grundlage für Rasiermesserschleifarbeiten von Michael Nestmann.
- In seiner Lehrzeit hat Herr Nestmann viele Rasiermesser repariert, aber auch selbst geschliffen. Die notwendigen Rohlinge wurden über die Firma Otto Busch (bekannt durch das Warenzeichen „Weltmeister“) bezogen.
- Michael Nestmann war der letzte Lehrling der Firma Engelhard (vormals Nestmann am Dom vormals Max Nestmann jun.). Sämtliche Schleifer in der der Zwickauer Gegend wurden entweder durch Max Nestmann jun. oder Kurt Nestmann bzw. deren Nachfolgefirmen ausgebildet.